Onlinesichtbarkeit und „Mama-Blogs“

Grumpf, das Blog mag seinen immateriellen Status und will nicht aus meinem Kopf heraus. ;-) Da fehlt mir noch ein wenig die Übung, es aufs virtuelle Papier zu zwingen. Ich arbeite dran!

Derweil hat Sociological Images einen interessanten Beitrag zu Privilegien und Online(un)sichtbarkeit. Die Autorin hat beobachtet, dass in einer Hitliste von sogenannten „Mom Blogs“ (deren breite Popularität – und ehrlich gesagt auch: deren Existenz ;) – mir bisher unbekannt war) in Bezug auf die repräsentierten Moms nur sehr wenig Diversität herrscht:

„In addition to the lack of racial diversity, the blogs included in the list show very little variation in terms of class, sexuality, age, and marital status“ (Christie Barcelos, Gast-Bloggerin bei Sociological Images)

Sie reflektiert auch kurz über mögliche Gründe und nennt

  • die „digital divide“ („Digitale Kluft„), d.h. die Tatsache, dass – sowohl weltweit als auch innerhalb eines Staates – verschiedene Bevölkerungsgruppen eine sehr unterschiedliche Verfügbarkeit von Internetzugängen haben und somit als User dort unterschiedlich stark repräsentiert sind (zentrale Faktoren sind u.a. Alter und Einkommen),
  • das Privileg, überhaupt Zeit für ausgedehntes Bloggen zu haben,
  • das Privileg, über das nötige Vitamin B für die Verbreitung und Vermarktung des Blogs zu verfügen,
  • die sehr eng gefasste Mutterschafts-Norm, die in den meisten dieser Blogs vertreten wird (die meisten Vertreterinnen sähen sehr ähnlich aus und machten sehr ähnliche Dinge).

Diese Überlegungen befinden sich auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen, liefern jedoch ausschließlich Gründe für einen Mangel an „Mama-Blogs“ von Unterprivilegierten. Die Kommentare machen sehr schnell auf den Aspekt der Wahrnehmung (perception) bzw. Sichtbarkeit aufmerksam und kritisieren die Auswahl der Hitlisten-Jury, zudem liefern sie eine ganze Menge Beispiele für Blogs, die mehr Diversität bieten.  Damit ist man gleich im Zentrum der Debatte über Onlinesichtbarkeit: Auf welchen Kriterien beruht unsere Wahrnehmung? Bildet die – wahrgenommene – Onlineunsichtbarkeit die Unsichtbarkeit im wahren Leben ab? Welche Mechanismen liegen beiden zugrunde? Wahrscheinlich kann man sie kaum getrennt voneinander betrachten.

Die von der Autorin aufgeführten Gründe erklären sehr gut, wie der Status Quo sich aufrecht erhält, aber sie sind doch eher die Symptome eines noch tiefer liegenden sozialen Mechanismus (sofern der nicht nur eine Einbildung paranoider Diskurstheoretiker ist :)). Sehr schön wird das m.E. an dem Erklärungsansatz ‚Naja, die haben eben keine Zeit!‘ deutlich (da kaum etwas so relativ und diskursabhängig ist wie die Zeitwahrnehmung). Denn gerade das ist ja das Problem – dass bestimmte Bevölkerungsgruppen systematisch aus bestimmten Aktivitäten ausgeblendet werden bzw. sich selbst ausblenden, u.a. über eine solche Rechtfertigung wie diejenige, dass „für so was“ im Leben eines/-r Alleinerziehenden, Hartz-IV-Empfangenden etc. eben keine Zeit sei. An dieser Stelle dann nachzuhaken, warum das eigentlich so wahrgenommen wird und wie ein solcher Freiraum zu schaffen sei, da beginnt eigentlich erst die Debatte.

Diversity und Inklusion off- und online

Als Hochschullehrende beschäftige ich mich häufiger mit Fragen der Beteiligung und Inklusion  – was meine eigenen Seminare angeht, aber auch darüber hinaus.

Die Bildungsforschung fasst dies in dem buzzwordigen Begriff ‚Diversitymanagement‘. Wie ist eine Beteiligung von Personen zu erreichen, die sich außerhalb der historisch gewachsenen Norm bewegen, denen ein Privileg oder gleich mehrere Privilegien fehlen? Konkret geht es um die Sichtbarkeit und Beteiligung von Personen mit Migrationshintergrund, mit Working-Class-Hintergrund, mit Behinderung, Frauen in MINT-Fächern und Führungspositionen, Männer in Erziehungswissenschaften etc.
Dahinter steht der Gedanke, dass eine Gesellschaft davon profitiert, wenn sie keine Monokultur ist (hier kann man natürlich anderer Meinung sein, ich selbst sehe für mich genügend Indizien, die dafür sprechen, und gehe daher hier und im Folgenden davon aus, dass es sich so verhält).

Auf den kleineren Rahmen einer Seminarsituation übertragen, lässt sich das Anliegen so formulieren: Wie kann man im Seminar eine Beteiligung von mehr Personen als den üblichen drei Platzhirsch(küh)en erreichen? Die erste Erfahrung, die man machen kann, ist, dass es ganz und gar nicht ausreicht, zu Beginn zu proklamieren: „Hier dürfen und sollen alle mitmachen!“ Dieser Appell kann sich im Gegenteil noch kontraproduktiv auswirken, weil er TeilnehmerInnen, die sich ohnehin schon unter Druck setzen und selbst blockieren, noch zusätzlich unter Druck setzt.

Hingegen kann es helfen, wenn die Seminarleitung, statt eine Bringschuld der TeilnehmerInnen zu suggerieren, eine eigene Holschuld erkennt. Meiner Erfahrung nach kann man, um diesen Mechanismus zu durchbrechen, verschiedene Methoden und Zugangsweisen kombinieren, z.B.:

  • Direkte Ansprache, Lob und Aufmunterung. Für viele, vor allem stillere TeilnehmerInnen, ist der Gedanke „Jede(r) ist hier wichtig“ und entsprechend „Ich bin hier wichtig“ alles andere als selbstverständlich. Eine persönliche Ansprache (mit Namen!) kann daher geradezu zu einer Offenbarung führen.
  • Verkleinerung der Gruppe (z.B. durch Einzelgespräche vor Beginn der Sitzung, durch Projektarbeit u.ä.). Große Gruppen üben auf in ihnen Unerfahrene eine geradezu magische Abschreckungskraft aus, weshalb eine Verkleinerung des Wirkradius sehr gewinnbringend sein.
  • Zarter Zwang à la „Jeder sagt jetzt etwas dazu!“, z.B. in einer sogenannten Blitzlichtrunde (deren Thema niedrigschwellig sein muss). Die Erfahrung, einmal etwas gesagt zu haben und ein positives Feedback erhalten zu haben (im Didaktiksprech: „Kompetenzerleben“) ist ein wirksamer Eisbrecher.
  • Einflechten anderer Beteiligungsformen. Die „Friss oder stirb!“-Seminarsituation kann zu Blockaden führen. Hier habe ich z.B. mit asynchron zu bearbeitenden Blended-Learning-Aufgaben ohne Spontaneitätsdruck etc. erstaunliche Erfahrungen gemacht – TeilnehmerInnen, denen das Too-much-information-zu-schnell-zu-viele-Leute im Seminar die Sprache verschlägt, blühen hier plötzlich auf.

Meiner Erfahrung nach kann Inklusion auf diese Weise tatsächlich gelingen. Man kann erreichen, dass sich in einem Seminar alle TeilnehmerInnen einbringen und den Arbeitsprozess gestalten (NB: wiederum setze ich voraus, dass dies wünschenswert ist – natürlich kann man anderer Meinung sein; ich selbst habe aber so gut wie ausschließlich positive und fruchtbare Erfahrungen damit gemacht).

Wenn ich nun versuche, diese Überlegungen auf „Lurker“, also aktiv rezipierenden, sich aber nicht beteiligenden NutzerInnen von Foren/Blogs/Mailinglisten etc., zu übertragen, scheint es mir einige Parallelen zu geben. Auch hier gehen die Reflexionen vielfach nicht über den Appell „Aber hier dürfen doch alle mitmachen! Ab ins Netz mit euch!“ hinaus.

Vielleicht könnte es aber auch hier kreativere Lösungsansätze geben. Aus der Diskussion zum ersten Blogeintrag und sonst so trage ich mal ein paar Ideen und Aspekte dazu zusammen:

  • Vernetzung und Solidarität. Über den Austausch mit anderen, durch Sichtbarwerden von Individuen und durch persönlich adressierte Aufmunterung kann es gelingen, das Gefühl „Ich stehe allein auf weiter Flur und NIEMANDEM geht es so wie mir! :´-(“ zu unterbinden bzw. produktiv zu kanalisieren. Ich finde die „30 Tage“-Aktion der gemeinen frankfurterin toll und würde sie am liebsten zu einer breiten Aktion von mehreren Neubloggenden ausweiten!
  • Gewährleistung von Anonymität. Ein interessanter Punkt. „Das Internet“ kann bedrohlich wirken und ein Sichbarwerden darin als Sichausliefern empfungen werden, manchmal auch, weil man aus Unwissen gar nicht sicher ist, wie viel man gerade eigentlich von sich preis gibt. Dieser Punkt hängt daher direkt zusammen mit:
  • Beratung und Aufklärung. Eine Instanz (ein Verein/ein Netzwerk) unterstützt und berät Interessierte dabei, genauso sichtbar zu werden, wie sie wollen – und genauso unischtbar zu bleiben, wie sie wollen.
  • Neue Beteiligungsformen/Anpassung bisheriger Beteiligungsformen. Die Vorstellung „Wir bloggen alle zusammen“ kann schon so eine Form sein. Ich könnte mir auch so was vorstellen wie: In einem Blog/auf einer Mailingliste mit hoher Beteiligung wird eine neue Regel eingeführt. Einmal im Monat (oder so) gibt es einen Eintrag/ein Thema, zu dem es heißt: „Hier darf nur kommentieren, wer noch nie (oder „in den letzten 6 Monaten höchstens einmal“/“noch nie meinungsbasiert“) kommentiert hat“. Ein solches Experiment würde mich sehr interessieren.
  • Unsichtbarmachen nichtwertschätzender Positionen – z.B. durch Löschen von Kommentaren, Backlinks etc. Dies ist für mich ein problematischer Punkt, weil man sofort in Abgrenzungsschwierigkeiten gerät. Grundsätzlich halte ich es aber für richtig, dass z.B. BlogbetreiberInnen sich bei Kommentaren, die ihre persönlichen Grenzen überschreiten, das Recht nehmen, diese zu entfernen. Leute, die ‚härter im Nehmen‘ sind, sollten sich vielleicht zusätzlich noch Gedanken machen, ob sensiblere Mitleser, deren Position ihnen möglicherweise auch wichtig sein könnte, abgeschreckt werden könnten.

Was meint ihr dazu?

Ans Licht mit dem Wolkenkuckucksblog! Ein Aufruf.

Seit mindestens vier Jahren habe ich ein imaginäres Blog. Ich befülle es allwöchentlich mit virtuellen Einträgen. Wenn ich in Stimmung bin, denke ich mir virtuelle Kommentare dazu aus. Ich habe sogar schon diverse Domains registriert, WordPress-Themes angepasst und About-Seiten verfasst. Doch freigeschaltet habe ich sie nie. Und einen tatsächlichen Blogeintrag habe ich noch nie geschrieben, auch wenn ich es mir jeden Monat aufs Neue vornehme.

Ich habe das immer für meine persönliche Wahnsinnigkeit gehalten. Doch seit einiger Zeit frage ich mich, ob das wirklich stimmt. Ob es nicht doch noch viele andere Wolkenkuckucksblogger*innen wie mich gibt – und ob es nicht tatsächlich vornehmlich Wolkenkuckucksbloggerinnen sind. Denn plötzlich fielen mir Parallelen auf: Diese existentielle Angst, wenn ich mal einen Blogkommentar (zweimal in meinem Leben habe ich mich das – unter Pseudonym! – getraut) oder ein Mailinglistenposting geschrieben habe – irgendwie fühlte sie sich doch sehr ähnlich an wie der Fluchtimpuls, der mich regelmäßig in platzhirschdominierten Gesprächsrunden ergreift. Dieser Drang, bloß unsichtbar zu bleiben. Diese Stimme, die mir einredete, ich habe nichts Sinnvolles beizutragen: War das nicht vielleicht der „innere Patriarch“, vor dem mich eine wohlwollende ältere Kollegin immer gewarnt hatte? Diese ständigen Gedankenschleifen: Ich blogge unter meinem richtigen Namen, ist doch Quatsch sich zu verstecken. Aber was, wenn ein wahnsinniger Internettroll mich aufspürt? Also doch ein Pseudonym? Aber das ist doch feige! Und da capo. War diese Angst vor „dem bedrohlichen Internet“ nicht sehr vergleichbar mit der Angst vor dem gefährlichen Park / der unheimlichen Seitenstraße / dem finsteren Hinterhof / der einsamen Haltestelle in der Dämmerung?

Mit dem Slogan „Reclaim the night“ haben sich mutigen Feminist*innen gegen das systematische Vertreiben ganzer Bevölkerungsteile von den Straßen gewehrt. Eigentlich müsste es doch auch in Bezug auf das Internet möglich sein, den Fluchtimpuls kritisch zu reflektieren und möglicherweise in einen Angriffsimpuls umzuwandeln.

Die Forderung „Mehr Frauen* ins Netz!“ liest man häufiger. Aber einen fruchtbaren Austausch über die Mechanismen, die am invisibilitätsproduzierenden Werke sind, und vor allem eine Beteiligung der Betroffenen, der unsichtbaren Mitleser*innen, vermisse ich noch. Daher krieche ich, passionierte unsichtbare Mitleserin, aus meinem Schneckenhaus und strecke die Fühler aus:

Hey, ihr anderen Wolkenkuckucksblogger*innen: Diese Panik bei dem Gedanken: Ich bin sichtbar – kennt ihr das? Dieses Ach, was ich zu sagen habe, interessiert doch keine(n) – kennt ihr das? Ich würde mich gerne mit euch darüber unterhalten.

Und ihr wunderbaren bereits Bloggenden: Den inneren Patriarchen im Zaum halten – wie macht ihr das? Sich sichtbar und gleichzeitig (halbwegs) sicher fühlen – wie macht ihr das?

Ich brauche eine Coach, eine Selbsthilfegruppe, eine virtuelle Wolkenkuckucks-WG-Küche. Ich brauche eure Hilfe. Meldet euch bei mir. Reclaim the blogosphere und alles.